Die Abreise
Gast , 1 Die AbreiseSohnemann-Sohnemann-Sohnemann.
Er wälzte sich übers Laken, die Litanei wollte kein Ende nehmen, Sohnemann-Sohnemann ...
Mühselig öffnete er die verklebten Lider, im Türrahmen stand seine Mutter und ließ voller Niedertracht verlauten: „Sohnemann ... es ist so weit, du musst dich fertig machen.“
Lange beäugte er die Ziffern der Digitaluhr, nach eigenem Dafürbefinden hätte er mindestens noch eine Viertelstunde weiterpennen können, eine unschätzbare kleine Ewigkeit. Griesgrämig blieb er auf dem Rücken liegen, Benny kam hereingestürmt und leckte ihm liebestoll übers Gesicht. Die üble Morgenlaune konnte das Hündchen nicht hinfort wischen, Benny stank aus dem Maul. Angewidert von der Realität, kam Walter auf die Beine und schlurfte unsichereren Schrittes gen Badezimmer. Dort ertappte er seine Freundin beim übermütigen Geplantsche am rauschenden Wasserhahn.
„Guten Morgen“, grüßte Jette fröhlich nuschelnd, und spuckte eine Ladung Zahnpastaschaum ins Waschbecken.
„Morchn“, brummte er, halb in Trance, während er seine saure Fresse im Wandspiegel betrachtete - sie sah genauso beschissen aus wie er sich fühlte.
Zeit satt, dachte Walter, als er sich ungesellig an den Esszimmertisch setzte, um seiner Mutter, die sich größte Mühe gab, ihr letztes gemeinsames Frühstück so fürsorglich wie möglich zu gestalten, giftige Blicke zuzuwerfen.
„Du hast mich viel zu früh aus den Federn geholt“, gab er maulend zu verstehen.
Sein Groll hing wie ein Atompilz über dem liebevoll gedeckten Tisch. Da es zur Eile nicht den geringsten Anlass gab, las er ausgiebig die Lokalzeitung und biss nebenbei ins Brötchen. Danach nahm er die Lektüre mit auf das Gästeklo, und ignorierte beharrlich das Weiterticken aller Kuckucksuhren dieser Erde. Auf einmal holte ihn mütterliches Kriegsgeschrei aus der stoischen Ruhe.
„WAS!“, hallte es unheilschwanger durchs Reihenhaus. „Es ist bereits halb elf und du sitzt noch auf´m Pott!“
Im Nu tauchte er aus seiner trotzigen Lethargie auf, war ebenfalls in hektisches Koffer-Auf-und-Zumachen involviert, lief quadratlatschig über die persischen Teppiche, stieß gegen Ecken und Kanten, fummelte zwischen Bügeln und Stangen.
Endlich war es soweit, waren sowohl das Gepäck als auch Handtasche, verschiedene Mitbringsel und eine Tüte Proviant im Kofferraum verstaut. Sie fielen in ihre Sitze, zogen und zerrten an den Sicherheitsgurten, der Wagen katapultierte aus der Parkzone, Mutter konnte, Mutter sollte auf die Tube drücken! Verstohlen wanderte sein Blick auf die Uhr des Armaturenbretts, es war wirklich spät! Wie von Geisterhand heraufbeschworen, hielten Anspannung und Ungeduld ihren Einzug. Mutter litt am meisten, das hatte verheerende Folgen. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, ihre Finger krallten sich ins Lenkrad, der Wagen schlenkerte und schlitterte über den Asphalt, als müsse er sich entscheiden, ob er eher gegen die Leitplanke krachen oder doch lieber die Böschung hinabstürzen wollte. Begleitet von einem camouflierenden Hüsteln, huschte sein Blick erneut zur Uhr; Schweißperlen kribbelten auf seiner Haut, seine verspiegelte Sonnenbrille rutschte von der Nasenwurzel. Dann geschah es! Quietschendes Gummi, aussetzende Herzen, feuchte Achselhöhlen, einstimmiges Gestammel.
„O nein! Nur das nicht! BLOß NICHT!“
„Wir haben die Abfahrt verpasst, der Himmel sei uns gnädig!“
Der blanke Wahn war seiner Mutter ins Gesicht gemeißelt. Das von Schrecken zerfurchte Antlitz wandte sich ihm zu, die Stimme von grabeskaltem Zittern durchfleucht: „Das schaffen wir nicht mehr ...!“
Als Reaktion darauf wallte in ihm eine unfassbare Gleichgültigkeit herauf, reine Ausgeburt der Rebellion. Lass dich von dieser läppischen Panikmache bloß nicht anstecken, dir können solche Mickerigkeiten nichts anhaben, den hysterischen Rufen muss auf der Stelle Einhalt geboten werden!
„Das packen wir noch, kein Problem.“
Er wusste, was jetzt in den Köpfen der Frauenzimmer vor sich ging: Mein Gott, hat der Kerl Nerven, kaum auszuhalten, aus purem Stahl! Um auch den letzten Zweifler zu überzeugen, schob er lässig die beschlagene Sonnenbrille zurecht, lief zu Hochform auf. Unterdessen war er darum bemüht, den in Strömen fließenden Angstschweiß einzudämmen sowie den quadratischen Kloß im Hals runter zu würgen.
„Das kommt daher, dass du immer so spät aufstehst“, orakelte Mutter, „und dann wie eine Schnecke durchs Haus kriechst.“
Alle Ampeln standen auf Rot, alle Sonntagsfahrer hatten sich gegen sie verschworen, alles, was sich um sie herum abspielte, schien nur einen einzigen Daseinszweck zu erfüllen: das Trio aufzuhalten. Sie wackelten, schepperten, klapperten dahin, Gefangene im Spielball des Schicksals. Geschwinder Blick auf die Uhr, noch vier Minütchen und sechsundzwanzig Sekunden, zwei freche Kurven und ein im Niemandsland parkendes Taxi. Eine Schar lebensmüder Krähen, das Auto stieß mit Brachialgewalt hindurch, nichts als trudelnde Federn hinterlassend. In letzter Sekunde kamen sie vor dem Bahnhofsportal zum Stehen, auf Kommando flogen die Türen auf und sie sprangen wie eine Eliteeinheit der Stasi aus der Kiste.
„Tschüss, Mutti! Gruß an Papa, wenn er von der Arbeit kommt!“
Seine Mutter begann zu schluchzen, ein Bild des Jammers, das es zu ignorieren galt. Sie setzten sich in Bewegung, kolbenartige Schritte dröhnten auf dem Pflaster.
„Verflucht, ob wir´s wirklich noch schaffen?“
„Wo zum Geier ist die verfluchte Anzeigetafel?“
Mit dem Handrücken wischte er den brennenden Schweiß aus den Augen. Und schließlich sah er es, profan und digital leuchtete ihm die grausame Botschaft entgegen: DER ZUG NACH KOPENHAGEN HAT CA. 50 MINUTEN VERSPÄTUNG. Die Ironie des Lebens hatte wieder einmal zugeschlagen.
„NEIIIIN!“ In seinem Aufschrei lag alle Vergeblichkeit menschlichen Mühens. „Ich hab´s ja gleich gesagt, die ganze Hektik lohnt sich nicht.“
„Deine Nerven möchte ich haben“, tönte Jette, und ihr Sarkasmus war unüberhörbar.
(c) P.PitschSeite 1 von 1 [ 15 Beiträge ]
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