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  • Von hochgeladen im Album Der Stuhl am 06.10.2009



    Linke Tafel eines Triptychons.
    Auflage: 5

    Sehen Sie sich mit eigenen Augen an, was mit ihrer verstümmelten Leiche so alles angestellt wird:


    Koi Cha und finden Sie heraus, welche Rolle ihr kranker Nachbar dabei spielt:

    Der Nachbar // Einige Detailaufnahmen sind in folgendem Album zu finden:



    Die Frau ohne Stuhl // Kurzgeschichte
    DIE FRAU OHNE STUHL: »Sie neigte schon immer dazu, sich ungebührlich zu kleiden und war für ihre Eltern bereits eine Enttäuschung, als sie gerade einmal zwei Jahre alt war und sich quengelnd und wimmernd weigerte, ihr geliebtes Dirndl gegen einen Strampler einzutauschen; die armen Eltern befürchteten schließlich zu Recht, durch diese unkonventionelle Kindeskleidung ins Augenmerk der aufmerksamen Kindergarten-Praktikantin zu geraten und durch einige wohlgesetzte Spekulationen und Verdächtigungen an der richtigen Stelle ihr hohes gesellschaftliches Ansehen zu ruinieren. Was war es, das ihr das Dirndl so unverzichtbar und unersetzlich machte? Ihr Körper war eine Schande, das stellte sie bereits bei ihrer eigenen Geburt fest, und sie bezog ihr Make-Up stets vom benachbarten Bestattungsunternehmer, der – wie er sagte – die zweifelsohne wirkungsvollste Schminke besäße und die sich – wie er auch immer wieder beteuerte – auf ihre Haut lege wie ein dichter Nebel. Diese Schminke war stellenweise so dick aufgetragen, daß die Effekte weniger durch die Farbveränderungen ihrer Haut erzielt wurden, denn dadurch, daß ihr Gesicht regelrecht neu modelliert wurde; hie und da türmten sich die Schminklagen auf ihrer Gesichtshaut so hoch übereinander, daß sich ein völlig neues Antlitz herausarbeitete und der ursprüngliche Sitz der Augen, der Nase und des Mundes nur noch erahnt werden konnte. Es war nur noch ein dilettantisches Wechselspiel verschieden großer Wülste, Beulen, Gruben und Einkerbungen festzumachen, unter welchem es atmete, jammerte und schmatzte. Die größten Probleme mit ihrer Umwelt bereitete ihr dabei die Tatsache, daß sie in diesem schwulstigen, fettig-pudrigen Gesicht einen Anus anstelle eines Mundes besaß, und daß sich ihr Mund an dementsprechend prekärer und von der Außenwelt abgeschnittener Stelle befand. Doch diesen Umstand verstand sie umzudeuten und gar Nutzen aus ihm zu ziehen, denn wenn sie gelegentlich ausging, ihre Wangen vorher in eine dicke Schicht bräunlich-orangefarbener Schminke hüllte und den Schließmuskel in ihrem Gesicht mit aufreizend rotem Lippenstift bedeckte, so täuschte sie ihre Gesprächspartner und gaukelte ihnen einen besonders verführerisch, permanent gespitzten Kussmund vor. Sprechen fiel ihr sicht- und hörbar schwer, denn außer eines heftigen Pressens und Zuckens ihres Anus kam kein Laut aus ihm heraus, abgesehen vom gelegentlichen Hauchen und Zischen durch das Absetzen fauliger Gase. Sie sprach deshalb heimlich mit ihrem eigentlichen Munde, den sie in ihrem Schritt trug und auf dem sie in schwierigen Gesprächssituationen saß, und gab durch die grob synchronen konvulsiven Zuckungen und Verkrampfungen ihres Anus den Anschein, auch durch ihn zu sprechen und zu argumentieren, zu scherzen und zu lachen. Sie war sich selbst ihre eigene Bauchrednerpuppe und improvisierte das Schauspiel. In diesem Zusammenhang sei auch ihr Geschlechtsorgan zu erwähnen, welches nicht viel mehr war als ein trostloser Spalt, für den sie sich schämte; er war lieblos geschmückt mit wirrem dünnem Haar, und erinnerte an ein in die Ecke gedrängtes, sterbendes Tier. Sie leugnete ihr Geschlechtsteil und trug konsequenterweise eine Windel, um nicht auf dem Toilettengang regelmäßig mit ihrer Existenz konfrontiert zu werden, und selbst wenn es ihr mithilfe ihres betörenden Erdbeermundes gelang, mit einem anderen Menschen intim zu werden, nahm sie die Windel niemals ab. Im Laufe der Zeit hatte sich eine zweite Klitoris auf der Windel entwickelt und sie gebrauchte dies als Vorwand, um sie nicht abnehmen zu müssen. Besonderes Aufsehen erregten auch ihre Beine, lange knorrige Verlängerungen ihres Körpers, die an altes morsches Holz erinnerten und für gewöhnlich derart verkrampft waren, daß sie unentwegt zitterten. Diese imaginär schönen Beine trug sie jedoch gerne zur Schau und zierte sie mit einem kurzem Röckchen, der sich wie ein Regenschirm über ihrem Becken blähte, wenn sie sich nur schnell genug mit ihren Füßen auf einem Punkte drehe. Zu allem Überfluss fiel ihr auch noch das Haar aus, so als sei ihr Schädel unfruchtbar geworden, vergiftet vielleicht, oder einfach ausgetrocknet wie ein steiniger Acker. Auf ihrem dürren Schädel krochen einige schmierige Strähnen ziellos umher und wurden erst im Genick durch ein Band zusammengehalten; dieser jämmerliche Zopf war einer der übriggebliebenen Monumente ihrer weiblichen Schönheit, und sie trug ihn stolz mit sich, ohne sich nicht insgeheim auch für ihn zu schämen. Sie betonte ihn, räumte ihm einen großen Stellenwert in ihrer äußeren Ausstrahlung ein, denn auch schmückte sie ihn manches Mal mit einer Blüte, doch hoffte sie im gleichen Momente, der Zopf würde niemals und von niemandem wahrgenommen und beachtet werden; als sei er nur für sie allein existent. Eines Abends, nachdem sie sich wieder fein gemacht und sich selbst mit einem Einlauf und einem minzigen Zäpfchen verwöhnt hatte, verließ sie voller Tatendrang das Haus und ging zur nächstgelegenen Kneipe der Nachbarschaft. Bei dieser Kneipe handelte es sich um die Stammkneipe anwohnender Ärzte und Wissenschaftler, allesamt Greise und längst im Ruhestand befindlich: ehemalige Neurologen, Anästhesisten und Pathologen, bis hin zu einer in letzter Zeit rasant anwachsenden Gruppe von Musikwissenschaftlern. Diese Gestalten in langen Kitteln strömten fast allabendlich in die Kneipe, in diesen so kleinen, überhitzten und staubigen Raum, und waren beim Eintritt emsig damit beschäftigt, einen Fuß vor den anderen zu setzen und närrisch zu beobachten, wie sich dabei der Staub auf ihre Zehen legte. Für gewöhnlich verbrachten sie die trüben Abende am Tische ohne überhaupt ein einziges Wort zu sagen, doch starrten sie sich über lange Stunden gegenseitig an. Ihre Blicke wanderten langsam im Schatten der Kneipe umher, blieben regelmässig an einer beliebigen wässrigen Pupille hängen und verharrten solange, bis sie grund- und ziellos weiterschwammen, um wieder im nächstbesten feuchten Auge ruhen zu bleiben. Wie so die Blicke umherwanderten und die Augenkontakte wirr durch den Raum gesponnen wurden, erschien es, als entstünde tatsächlich ein klebriges Geflecht schmieriger Blicke und trauriger Augenaufschläge, wie ein verknotetes und undurchdringliches Spinnengewebe, das durch die ganze Kneipe hing. Und als nun die Frau mit den scheinbar zum Kuss gespitzten Lippen die Eingangstür öffnete und langsam eintrat, sich auf Zehenspitzen zur Theke zubewegte, ganz vorsichtig, um das Auf- und Abtanzen ihres Zopfes so gering wie möglich zu halten, da war es, als verfange sie sich in diesem gesponnenen, klebrigen Geflecht, als würde sie in Fäden gewickelt und verwoben zu einem riesigen, unförmigen Kokon, während die Wissenschaftler noch immer still und verkrampft an ihren Tischen saßen und nicht mehr wagten, zu blinzeln. Als sie wieder erwachte, fand sie sich liegend auf dem kühlen Boden eines gotischen Gewölbes. Sie nahm voller Ekel wahr, daß sie nackt war, und ihr Körper mit einer klumpigen, öligen Flüssigkeit bedeckt; sie hatte sich in den Falten ihrer Haut gesammelt und hinterließ trockene Krusten. Sie bemerkte die Plattenspieler, die um sie herum verteilt standen; es waren alte Grammophone mit langen ausladenden Trichtern, die wie weit aufgerissene Mäuler in die Luft ragten, und sie erkannte, daß einige Plattenteller sich drehten und sanft auf- und abwogen. Trotzdem war die Stille im Raum so vollkommen und absolut, daß in ihrem Inneren die Angst aufstieg, es müsse jeden Moment ein unerträgliches Heulen aus den Trichtern dröhnen – so wie sie es in ihrer Bewusstlosigkeit gehört zu haben glaubte –, und sie war sich sicher, daß auch dies geschehen solle, würde sie sich nur zu abrupt und zu hastig bewegen. So lag sie in ihrer Furcht noch immer klamm und gläsern auf der Seite und sah um sich, ohne ihren Kopf zu bewegen, steif und regungslos, als sie endlich hinter ihrem Rücken ein erschrockenes und heftiges Würgen und Krampfen wahrnahm; jemand, der ganz nah war, fast fühlbar nah, schien sich hinter ihr erbrechen zu müssen und es mit aller Kraft hinauszuzögern. Vielleicht starb jemand einen Vergiftungstod, denn mit dem gequälten Würgen ging ein noch viel jämmerlicheres Stöhnen und Klagen einher, das so voller Traurigkeit und Determination war, dass sie nicht wagte, sich zu bewegen, zu sprechen oder gar sich umzudrehen. Stattdessen ließ sie es mit sich geschehen, sie wartete einfach ab, so wie man das Satzende eines Stotternden abwartet, mit stetem aber unsicheren Blick ins Leere. Stoßweise ergossen sich schmierige Klumpen warmen Gelees über sie. Nachdem der letzte breiige Spritzer ihre Haut getroffen hatte und zu träge war, um von ihrer Haut herabzufließen und sie stattdessen neckisch kitzelte, fühlte sie sich zunehmend erregter. Sie gierte nach mehr und begann, sich den Saft mit ihren Händen von der Haut zu schaben, und ihn zu trinken. Während sie noch mit ihrer Zunge die mehlige seifige Textur erkundete, drehte sie sich in gleichbleibender Langsamkeit um, die Augen dabei losgelöst von der Umgebung, rollte sich zunächst unbeholfen auf ihren Rücken und streckte dann ihre nackten Beine aus, als treibe sie im Wasser. Mit nur zum Spalt geöffneten, aber ganz entspannten Augen blickte sie zur Seite; sie sah gar überhaupt niemanden, von einigen hässlichen altmodischen Plattenspielern abgesehen. Nun fror und zitterte sie, und sie flüchtete sich in tiefen Schlaf. Als sie das nächste Mal erwachte, fand sie sich vor ihrer offenen Haustür liegend, vollständig gekleidet, und sie begann zu zweifeln. Sie blickte in den Spiegel, und versuchte Spuren in ihrem Gesicht auszumachen, die all ihre abstrusen Erinnerungen hätten bestätigen können. Seit jeher hatte ihre Phantasie Kontrolle über ihre Erinnerungen, denn oft malte sie sich imaginäre Szenerien in ihrer Vorstellung so plastisch aus, daß sie wenig später schon nicht mehr zwischen Phantasie und Realem unterscheiden konnte, zwischen erdachten wundersamen Begebenheiten und tatsächlich Erlebtem. Das erschreckende dabei war, daß beide Ebenen – die imaginäre und die reale – in ihrem Gedächtnis für gewöhnlich ineinander-übergriffen, ganz fließend und ohne deutliche Trennlinie, und es ihr deswegen unmöglich war, zu sagen, ob es sich bei einem bestimmten Detail ihrer Erinnerung um ein wahres Fragment innerhalb einer fiktiven Umgebung handelte, oder ob es nur einen ersponnenen unwahren Flicken im sonst tatsächlich geschehenen Ganzen darstellte. Daher ließ sich auch nicht mehr ausmachen, ab welchem Zeitpunkt eine Geschichte in ihrem Gedächtnis in Fiktion überging; sie wußte einfach nicht, woran sie sich halten und klammern musste. Sie knöpfte ihr Korsett auf, hing es sorgfältig an den einzigen Haken an ihrer Wand und öffnete ihren Gürtel, sodaß der Rock ihr von den Oberschenkeln rutschte und ihre Windel entblößte. Die Schnalle des Gürtels schlug hart auf den brüchigen Dielenboden, aus dem krumme Nägel und Schrauben ragten. Kaum hatte sich der Schall zwischen den Wänden des Raumes verloren, polterte es heftig unter ihren Füßen, denn der unter ihr wohnende Mieter hämmerte stets hysterisch und ungeniert an der Decke seiner Wohnung, sobald er nur den bedeutungslosesten Laut aus ihren Räumen vernahm. Er schlug sich dabei manchmal regelrecht in Rage, in einen rohen und wilden Rausch, der nicht mehr zu enden schien, und er schrie bis seine Stimme zerbrach, und bis schließlich trotz Raserei und hörbar wilden Tobens nur noch mitleiderregendes Wimmern zu hören war. Die dumpfen bassigen Schläge ließen den Boden unter ihren Füßen aufschrecken, er zuckte und zitterte wie ein Muskel. In diesen Momenten schien es, als lösten sich die Holzlatten ihres bebenden Fußbodens, als würde sein Leib augenblicklich durch die Decke brechen und ihrem Boden entsteigen, sich vor ihr erheben. Das Grauen, das bei dieser Idee von ihr Besitz ergriff, durchzog ihr Fleisch, bis es ganz zäh und trocken wurde, es lähmte ihre Gelenke und riß an ihrem Haar; wieder blieb sie völlig unbeweglich. Sie stand einfach nur da und sah in den Abgrund, der in ihr selbst war, und sie sah ganz deutlich, wie sich langsam die Dielen unter ihr anhoben und zu krümmen begannen, und wie der unförmige zermürbte Leib des Mannes zu ihr durch die Spalten der Dielen emporquoll, denn er war nicht viel mehr als eine weiche graue Masse, rissig und voller Falten, und sie verspürte beinahe Mitleid mit ihm und auch mit sich selbst. In diesem Moment aber wurde ihr leichter und die Schatten zogen aus ihrem Blick. Sie erkannte in dieser Masse ihren grauen Faltenrock, der ihre Füße umkreiste. Auch der Boden hatte den Schlägen standgehalten, die allmählich abebbten und sich zu einem schüchternen und verlegenen Klopfen verflachten, bis man den Mann schließlich nur noch mutlos an seiner Decke kratzen und schaben hörte. Von diesem leisen Geräusch begleitet begann sie, ihren bis auf die Windel nackten Körper zu betrachten und zu untersuchen, um vielleicht Überreste des Schleimes zu finden, der sich zumindest in ihrer Vorstellung über ihr erbrochen hatte, doch sie fand nichts, nicht einen einzigen Hinweis, der ihre Erinnerung zur Wahrheit hätte machen können. So tat sie nun die Erinnerungen an ihre Nacht – die ganze beklemmende Episode im Gewölbe – als substanzloses Phantasma ab, doch sie rätselte, wie weit sie in der letzten Nacht tatsächlich gegangen war; letztendlich beschloß sie für sich, daß auch der Besuch in der Kneipe lediglich eine plastische Idee ihres kranken Kopfes war. Sie musste wohl beim Verlassen ihrer Haustür in heftiges Denken und Phantasieren verfallen sein, und all ihre Erwartungen an diesen Abend – an die dunkle Luft der Kneipe und das staubige Schweigen der Wissenschaftler – musste in ihrem Innern zu einem uferlosen Fluß von Illusionen angeschwollen sein, der ihren Verstand auf seinen Wellen davongetragen hatte. Das eigenartige jedoch war – wie sie im Anschluß daran bemerkte –, daß sämtliche Stühle aus ihrer Wohnung verschwunden waren. Es war ihr kein großer Verlust, da sie es schon immer als ausgesprochen unangenehm empfunden hatte, auf ihrem Mund zu sitzen, und darum Stühle eher mied, doch verstärkte dies erneut ihre Verwirrung. Es dauerte einige Monate bis sie sich eingestand, daß sich seit dieser Nacht auch etwas in ihr selbst verändert hatte; es war etwas einfach nicht in Ordnung mit ihr. Sie musste feststellen, daß sich das Korsett ihres Dirndls nicht mehr schnüren ließ, denn schien sich ihr sonst so sehniger und dürrer Körper stetig mit irgendetwas zu füllen, er schwoll regelrecht an und ihre schlaffe Haut spannte sich und zerrte schließlich so sehr, daß sie glaubte, sie müsse zerreißen. Etwas wahrhaft unerträgliches wuchs in ihrem Körper heran und versteckte sich unter ihrer Haut. Nach einigen Monaten schien es Form anzunehmen und sie spürte, wie es ihr unter der Haut kroch und sich an ihren Organen rieb. Die Frau erhob ihre Hand und ballte sie, und ihre Faust verhielt sich wie ein Vorschlaghammer, ebenso langsam und träge ausholend und beschleunigend, und wenn sie bleiern auf ihren Bauch traf, so blieb sie noch einen Moment dort ruhen, als würde sich die Kraft, die sich beim Ausholen in der Luft von der Faust gelöst hatte und ihr in der Bewegung nacheilte, wieder über sie legen wie Tortenguss und sie noch schwerer machen, als sie eigentlich war. Die Frau lag nun auf dem Holzfußboden und krümmte sich wie in Zeitlupe, alles schien beinahe still zu stehen, auch die neu aufkommenden Schläge ihres Nachbarn unter ihr kamen in ungewöhnlich langen Intervallen zu ihr hinauf. Die Schmerzen, die nun in ihr aufbrannten, ließen alles um sie herum sich auflösen, sie war sich ihrer eigenen Existenz kaum noch bewusst. Sie konnte nur noch erahnen, wie sich ihre Windel vom Körper löste und etwas unter grellem Geheul aus ihr trat, etwas, das mehr Leben in sich hatte als sie selbst, und sie wusste, daß sie ohne dieses Etwas in ihrem Körper in Zukunft zu wenig sein würde, nicht mehr genug für diese Welt und für sich selbst. So war es nicht verwunderlich, daß die Frau in ihrem Delirium versuchte, halb blind nach diesem Ding zu greifen, das bereits zur Hälfte aus ihrem Rumpf ragte, und es gewaltsam wieder in sich hinein zu quetschen; sie stopfte den kreischenden Körper in diesen elenden Spalt zwischen ihren Beinen, wie zerkochtes Gemüse in einen Truthahn. Als sie sich endlich der Hoffnungslosigkeit ihres Handelns bewusst wurde, gab sie auf, und mit dem kleinen Körper entfuhr ihr auch jeder Wille, weiterhin zu leben. Sie schloss ihre Augen, die ganz nass und kalt waren, und durch ihre geschlossenen Lider hindurch glaubte sie jemanden wahrnehmen zu können, der ihre Wohnung vollkommen lautlos betreten hatte und nun über ihr stand. Das ohrenbetäubende Kreischen des Geschöpfes, das auf dem Fußboden zwischen ihren gespreitzten Beinen gelegen hatte, entfernte sich nun allmählich von ihr, und war noch für kurze Zeit hörbar, nachdem die Haustür wieder ins Schloss gefallen war. Dann aber umhüllte sie eine tiefe Stille, rein gar nichts blieb hörbar, noch nicht einmal ihr eigenes Atmen erreichte ihr Ohr, und mitten in dieses Vakuum hämmerte sich wieder ihr Untermieter, jäh und unvermittelt. Auch in ihm musste etwas verändert sein, denn seit diesem Augenblick verfiel er nicht mehr in Hysterie, sobald sie ein Geräusch verursachte, nein, er geriet in Rage gerade dann, wenn sie besonders still und leise war. Dieses mühevolle Schleichen in ihrer Wohnung, das sie sich angewöhnt hatte, um vom Mieter und von keinem sonst gehört zu werden, diese Verlangsamung all ihrer Bewegungen, wenn sie beispielsweise mit der einen Hand die Türklinke niederdrückte und gleichzeitig mit der anderen sanft die Tür gegen ihren Rahmen presste, um sie bei ihrer Entriegelung nicht hervorspringen zu lassen, diese vom Mieter konditionierten Verhaltensweisen ließen selbigen von nun an rasen wie Vieh. Da sie dies nicht ertragen konnte, bemühte sie sich in den darauffolgenden Wochen und Monaten, soviel Lärm wie nur irgend möglich zu machen; sie ging nun auf hohen Absätzen umher, sie schlug ihre Türen und schepperte mit dem Geschirr. Dabei meinte sie zu bemerken, daß alles in ihrer Wohnung weniger knarrte, ächzte und stöhnte, der Holzfußboden, die Türklinke, ihr Bett. Mit ihrer rohen Behandlung ging in allen Dingen spürbar neues Leben auf; nur nicht in ihr. Es war ihr zuwider, daß der Mann sie hören konnte, daß es ihm anhand der Geräusche möglich war, all ihre Handlungen nachzuvollziehen und zu wissen, wo sie sich gerade über ihm aufhielt und was sie tat; selbst was sie vorhabe und sogar denke, das schien er zu hören imstande. Machte sie ein Geräusch, so musste es ja unweigerlich dazu führen, daß er sie sich im Geiste vorstellte, daß ihre Person in seinem Kopf mit einer Meinung versehen wurde. All ihre Bemühungen, ein geräuschvolles Leben zu führen, waren unbeholfen und gekünstelt, und entsprangen keiner Unbedarftheit, nicht der Selbstverständlichkeit und jugendlichen Selbstvergessenheit. All diese Bewegungen – das gespielt achtlose Scheppern mit dem Geschirr zum Beispiel – waren kurze ruckartige Verkrampfungen, die das Leben nur hölzern imitieren konnten. Das Unzulängliche ihrer Karikatur des Lebens anderer war denn in ihren Bewegungen nicht nur sichtbar, sondern auch hörbar; schleuderte sie die Tür bewusst hart in den Rahmen, so blieb die Frau im Schwunge stehen, hielt geduckt inne, erwartete den Schlag der Tür wie ein Kind das Abreißen eines Pflasters, und zuckte über dem Lärm zusammen, der durch den Raum schoss. In den unzähligen vergeblichen Versuchen, ihren Mieter zu täuschen und sich dabei selbst auszublenden, fühlte sie sich tausendfach vergewaltigt. In dieser Verfassung entschied sie sich, zu einem Arzt zu gehen. Dieser Mann wurde ihr vom benachbarten Bestatter empfohlen, und sie trat in die Praxis, natürlich ohne vorher einen Termin vereinbart zu haben. Aufgrund ihres erbärmlichen Äußeren und des unverständlichen Gebrabbels wurde sie ohne langes Gezeter ins Wartezimmer verwiesen, und als sie sich vorsichtig auf ihren Mund setzte, fühlte sie sich plötzlich in ihren früheren Wachtraum zurückversetzt, in die Dunkelheit der nächtlichen Kneipe nämlich, doch schienen die Dinge in diesem Wartezimmer in Umkehrung befindlich. Hier war der Raum mit gleißender Helligkeit überflutet und durchtränkt. Er war einfach so intensiv grell überstrahlt, dass die Augen zu verbrennen drohten und der Körper sie mit Tränen löschte, und das Licht war in allem und so verstreut, dass kein Schatten sich zu legen wagte, so müde er auch sei. In der Mitte des Wartezimmers verdichtete sich statt des wirren Netzes aus Blicken nur eine Leere, die so massiv war, dass sie scharf umrissen erschien. Die Wartenden waren verzweifelt damit beschäftigt, jedem Blick der anderen auszuweichen, die sich unglücklicherweise in kürzestem Abstand zueinander auf am Boden festgeschraubten Stühlen gegenübersaßen. In langen quälenden Stunden verloren sie sich im Muster der Tapete, denn da war ja sonst nichts, woran man sich mit seinem Auge hätte halten können; der ganze Raum war bis auf die vielen Stühle ansonsten vollkommen leer. Trotz der apathischen Verkrampfung der Körper war doch ein solcher Lärm in diesem leeren Raum, ein Lärm, der irgendwo in der Brust wehe tat, denn jeder einzelne Atemzug klang wie ein lautes Japsen nach Luft, jedes verlegene Räuspern wie kehliges Gurgeln mit offenem Munde. Endlich wurde sie ins Arztzimmer geführt und es dauerte eine Weile, bis sie den Mann im Kittel bemerkte, der leicht verloren hinten in der Ecke stand und sie ansah. Etwas erschrocken trat sie vor und eilte ihm zugleich entgegen; sie begann sogar recht hastig zu rennen, durch das endlos lange und schmale Zimmer. Als sie so über den Boden flog und stampfte und sich alles vor ihren Augen schüttelte, war sie in der Hoffnung, das Schweigen des Wartezimmers hinter sich lassen zu können, das ihr noch immer anhaftete. Doch als sie den Arzt beinahe erreicht hatte und schon wieder ausschwenken wollte, um eine neue Runde durch sein Zimmer zu drehen, verlangsamte sie ihr holpriges Getrampel und kam nur zwei Schritte vor ihm schwankend zum stehen. Während sie abwechselnd heftig atmete und schluckte, sodass das Beben ihrer Brüste und das Auf- und Abspringen ihres nutzlosen Kehlkopfes ein nervöses Wechselspiel veranstalteten, unterlag sie erneut einem Déjà-vu, in dem Moment, als sie dem Arzt in die Augen sah. Es war dieses stumme Gesicht, dieser schwere Blick, der ihr so vertraut erschien. Die Frau begann zögernd zu sprechen, doch der Arzt gab sich wenig Mühe, den Anschein zu erwecken, ihr zuzuhören und sagte selbst kein einziges Wort. Sie erzählte ihm von innerer Unruhe und Schlafstörungen, von seelischen Gebrechen aller Art, doch schien er augenscheinlich nicht im geringsten auf das zu achten, was sie sagte. Er musterte nur mit wachsender Hingabe die Zuckungen in ihrem Gesicht. Weit nach vorn gebeugt und mit nach hinten geworfenen Armen kam er ihr näher, um jede Einzelheit ihrer Haut betrachten zu können, so nah, dass er mit seiner Nase auf ihrer Wange rieb; die Frau ließ sich dadurch nicht irritieren und führte dies auf die starke Trübung seiner Pupillen zurück. Schließlich aber, als sie es mit der beinah endlosen Schilderung ihrer Leiden auf sich beruhen ließ und in sein Gesicht schielte, das er fast gewaltsam auf ihre Wangen presste, brauchte es eine lange Zeit, bis der Arzt des Schweigens gewahr wurde. Abrupt löste er sein Gesicht von ihren Wangen und wandte sich ab; für einen Moment konnte sie noch den großen orangefarbenen Fleck erkennen, der auf seiner Nasenspitze zurückblieb. Nun schien er plötzlich über alle Maßen gleichgültig und griff mechanisch in die unterste Schublade seines vollkommen leeren Schreibtisches, um einen mit schwarzer Flüssigkeit gefüllten Infusionsbeutel samt Kanüle hervorzuholen. Sie hatte kaum Zeit, um diesen widerlich aufgedunsenen Beutel zu betrachten und sich überhaupt nach seinem Inhalt zu erkundigen, denn ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, drückte der Mann ihn in ihre Hände und wies schroff zur Tür. Es vergingen einige Tage, in denen sie den Beutel in einem Schrank unter einem Stapel gewissenhaft gefalteter Schmutzwäsche aufbewahrte und ver-suchte, sich gedanklich von ihm zu lösen, denn dieses ekelerregende Ding barg etwas in sich, vor dem sie sich fürchtete. In dieser Zeit bemerkte sie, dass der Mieter unter ihr seit ihrem Arztbesuch nichts mehr von sich hatte hören lassen. Nie wieder klopfte er an seiner Decke oder winselte zu ihr hinauf; es blieb vollkommen still unter ihr, als wäre sie allein im ganzen Haus. Zunächst glaubte sie sich erleichtert, doch schon nach einer Woche fühlte sie sich von ihm verlassen, regelrecht betrogen um seine Aufmerk-samkeit ihr gegenüber, und es dauerte nicht lange, bis sie selbst damit begann, in ihrer Sehnsucht nach ihm mit ihren Fäusten auf dem Boden zu trommeln. Sie erhielt niemals Antwort, erfuhr niemals den Grund seiner Trennung von ihr. Es war wohl in diesem Zustand des Verlorenseins und Verlorenhabens, dieses fiebrig-dämmrigen Gefühls des Verlassen-wordeneins, dass sie wie in Trance befindlich zum Schrank ging, die Tür öffnete und den Infusions-beutel unter dem Wäschestapel hervorholte. Er lag nun in ihren Händen und fühlte sich an wie kaltes rohes Fleisch, das ihr zwischen den Fingern zu zerrinnen drohte. Ohne etwas zu fühlen oder zu denken, schob sie sich die Kanüle unter ihre Haut und als sie die Klemme löste, floss schon der schwarze Saft in ihren Körper. Gleichzeitig fing der Beutel an, sich langsam zu bewegen und ganz leise zu zucken, fast so als erwache er aus einem Koma. Leicht angewidert sah sie seinen Bewegungen zu und schlagartig erkannte sie in der Form dieses Beutels den aufgeschwemmten dicken Oberkörper eines Mannes. Sie sah in der monströsen Ausbeulung des Beutels den ausladenden Bauch eines fettleibigen Zwerges, auf welchem zwei schwülstige Brüste lagen und zerflossen wie warmes Wachs; sogar die Brustwarzen und Bauchnabel erkannte sie nun als solche. Noch wagte sie nicht, ihn zu berühren, und liess den Beutel für eine knappe Stunde an ihrem Körper. Sie wiederholte die Prozedur in den folgenden Tagen und Wochen, und es wurde schnell zum täglichen Ritual, um das sich der Rest des Tages drehte. Auch beschränkte sie sich nicht mehr auf die eine kurze Stunde, sondern lag manchmal ganze Tage im Bett, mit dem Infusionsständer neben ihr, an dem der Beutel hing. An diesen Tagen tat sie nichts anderes, als seinen Bewegungen zuzusehen, während sie den schwarzen Saft in sich aufnahm. Irgendwann ging sie dazu über, ihn abends mit sich in ihr Bett zu nehmen, ihn zu berühren, zu streicheln. Sie bemerkte dabei, dass er nicht mehr kalt in ihren Händen lag, sondern dass er ganz warm war, dass die Wärme aus ihm selbst kam, und sie schmiegte sich an ihn. Seine Bewegungen waren nicht mehr bloßes Räkeln und Zucken, sondern er lernte, sich mühevoll kriechend auf ihrem nackten Körper umherzubewegen und machte schließlich sogar vergebliche Versuche, sich aufzurichten.
    Eines Nachts kam ihr der seltsame Gedanke, dass nicht er der Infusionsbeutel war, der leergesaugt wurde, sondern sie selbst; sie fragte sich, wer von beiden der Empfänger war, und wer der Spender. Aber nein, diese Idee war absurd, trotzdem aber verglich sie ihren Körper nun mit seinem. Erstmals nahm sie wahr, dass an bestimmten Stellen ihres Körpers kleine Kugeln wuchsen, die in die Haut eingelassen waren und ihren ohnehin schändlich missformten Körper noch weiter entstellten. Sie ging in die Küche und nahm eine Schere in die Hand; voller Furcht stach sie in eine der Kugeln ihres Fußes und eine dickflüssige schwarze Paste quoll träge aus der Wunde. Doch was sie am meisten traf und schockierte, das betraf nicht sie, sondern ihn, und sie verfolgte diese Beobachtung in den folgenden Wochen: der vorher so aufgedunsene Beutel schien sich langsam in einen abgezehrten Körper zu verwandeln, jeden Tag wurde er abgemergelter und magerer. Er schien zu sterben. Sie begriff nicht, wie sie dies erst derart spät hatte bemerken können und geriet in Panik. Sie würde es nicht verkraften können, ihn an ihrer Brust dahinsterben zu sehen und sah keine andere Möglichkeit, als die Kanüle in die Kugeln ihrer Haut zu stechen, in der Hoffnung, es würde all das in ihn zurückfliessen, was sie ihm vorher entzogen hatte. Tatsächlich füllte sich der Beutel wieder, doch fühlte sie ihr eigenes Leben erneut – doch nun endgültig – dahinschwinden. Sie entschied, dass entweder er oder sie selbst zu sterben hatte, und kurz darauf glitt ihr der Rock schon wieder von den Hüften, langsam die spröden Oberschenkel hinunter. Er schwebte lautlos hinab auf den Dielenboden, diesmal ganz ohne den Knall einer Gürtelschnalle.«

Titel Die Frau ohne Stuhl
Material, Technik Ätzradierung & Aquatinta
Format 180 x 93,5 cm (Druckplatte)
Jahr, Ort 2008, Groningen/NL
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